Bunt und weltoffen.

Gestern war Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. 70 Jahre sind vergangen, seit die Rote Armee die Gefangenen der drei Konzentrationslager in Auschwitz befreite. 6 Millionen Menschen starben durch den Holocaust. So viele Menschen leben in Berlin, Hamburg und Köln zusammen. Eines der größten Verbrechen der Menschheit an der Menschheit.

Wer den Holocaust leugnet, gehört verprügelt und weggesperrt.

Ich bin es der Welt als Deutsche schuldig, dass ich Aufklärungsarbeit leiste. Dass ich meinen Teil dazu beitrage, dass die Verbrechen der Nazizeit nicht vergessen werden. Ganz einfach, weil es ein wichtiger Bestandteil der deutschen Geschichte ist und damit irgendwie auch meiner. Ich gehöre zu denen, die darauf achtgeben müssen, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Das kommt nicht daher, dass ich mich schuldig fühle, denn nur weil da unter Staatsangehörigkeit das Wort „DEUTSCH“ in meinem Pass steht, habe ich mir nichts zu Schulden kommen lassen.

Und dennoch habe ich im Moment das Gefühl, dass ich zu oft einfach nur zuschaue. Hätte ich 1938 etwas unternommen oder doch am 9. November einfach nur vom Fenster aus zugeschaut und den Kopf geschüttelt? Hoffentlich nicht. Als Jugendliche mit Punkambitionen war ich wenigstens noch das Feindbild der dusseligen Dorffaschos, Heute kommentiere ich das Geschehen höchstens noch von meinem sicheren Sofa aus. Und das obwohl mir Bewegungen wie PEGIDA oder die Wahlergebnisse der AfD wirklich Angst machen. Ich muss einen Weg für mich finden, wie ich mich dem in den Weg stellen kann, ohne mir selbst untreu zu werden. Antisemitismus, Homophobie, Islamfeindlichkeit, Furcht vor Migranten… ich kann und will das alles nicht nachvollziehen.

Einen ersten Schritt in die richtige Richtung habe ich am 19. Januar gemacht und mit mir 10.000 Bielefelder. Eine beeindruckende Menschenmenge. Darunter viele Freunde, für die es auch nie zur Diskussion stand, ob man dort an einem Montagabend tatsächlich Flagge zeigen müsse. Ich bin stolz auf meine Stadt.

Ich bin nicht schuld.

Mit 28 arbeite ich meine Kindheit auf. Ich habe vor etwas über einem Jahr schon einmal einen Versuch gestartet, aber so etwas geht leider nicht von heute auf morgen. Es geht lange gut und dann kommt plötzlich wieder Weihnachten. Weihnachten ist immer furchtbar, weil es für mich fast zwei jahrzehntelang Streit bedeutete. Streit, weil der Baum schief war. Streit, weil falsch eingekauft worden war. Streit, weil jemand Heiligabend ein Fleck auf dem Hemd hatte. Streit, weil es wieder Streit gab.

Ich will niemandem die Schuld zuweisen. Wir alle sind falsch mit der Depression meiner Mutter umgegangen worden. Wir wussten es ja alle nicht besser. Heute sieht das anders aus. Zumindest dann, wenn man sich ernsthaft damit beschäftigen möchte. Vielleicht wird manchmal zu schnell eine Depression unterstellt, aber das Thema ist endlich präsent, genauso wie Studien und Leitfäden für Angehörige und Betroffene. Im Fernsehen, in Büchern, im Internet. Mal als Hype und manchmal ganz still vor sich hin.

Mich persönlich hat in den letzten Tagen ein bestimmter Artikel ziemlich getroffen. Hätten meine Eltern ihn damals gehabt, wäre das alles vielleicht ein bisschen einfacher für uns gewesen: 6 Things Every Kid Should Know About a Parent’s Depression.

 

1. Deine Mutter ist krank.

Ich muss es ehrlich zugeben, ich habe lange gedacht, dass die Aussage „Sie ist bei ihrer Ärztin“ nur eine Coverstory für Bekannte und Verwandte war. Am Ende kriegte man ein Rezept für Pillen, also wird das schon irgendwie als Arztbesuch durchgehen. Denn was ist ein Arzt ohne Spritzen und Stethoskop? Jemand, der jahrelang an einem Menschen „herumdoktert“, ohne ihn zu heilen? Ein Quacksalber.

Einzusehen, dass es man auch krank im Kopf sein kann, schaffen viele Erwachsene ja nicht einmal, wie soll das dann ein Kind verstehen?

2. Du bist nicht schuld.

Mein Bruder und ich hatten sehr lange ein schwieriges Verhältnis. Mit der Zeit wird es immer leichter, objektiv einen Blick darauf zu werfen. Wir haben uns gegenseitig die Schuld zugeschoben, wenn schon wieder Ausflug mit einer weinenden, zickigen Mutter endete. Manchmal haben wir sogar gedacht, dass der andere das mit Absicht macht. Sie zu verletzten. Und was macht ein Kind mit einem Menschen, der der eigenen Mutter weh tut? Es mag ihn nicht.

Und wenn gerade niemand anders schuld sein konnte, muss man es wohl selber gewesen sein. Dann ist man selber eben jener Mensch, der die eigene Mutter verletzt hat und man mag sich irgendwann auch selber nicht mehr.

3. Nimm es nicht persönlich.

Aber du schreist mich doch an! Es ist sonst niemand hier! Wie sollte ich es nicht persönlich nehmen, wenn du mich aus dem Nichts anfährst? Oder mir die kalte Schulter zeigst?

Ein Kind versteht es nicht, dass seine Mutter sich da gerade von der ganzen Welt abschottet. Es sieht nur sich und seine Familie.

4. Du bist noch immer geliebt.

Kuschelstunden. Küsse. Umarmungen. Ein „Ich liebe dich“. So etwas gab es bei uns fast nie. Jedenfalls nicht, solange ich zurückdenken kann. Wenn ich heute Mütter und Väter mit ihren kleinen Kindern sehe, die zum Abschied einen Kuss auf den Mund bekommen, frage ich mich: „Habe ich das auch früher einmal gemacht?“

Meine Eltern lieben mich und haben mich immer geliebt. Sogar während der Pubertät, Respekt dafür. Aber diese körperliche und verbale Distanz hat es doch geschafft, dass ich jahrelang immer irgendwie daran gezweifelt habe.

5. Depression ist behandelbar

Echt jetzt? Und wieso kriegt die Ärztin es dann nicht weg? Wieso muss meine Mutter dann jeden Tag Tabletten nehmen? Wieso zieht sich das über Jahre hin und irgendwie wird es nicht besser? Kaum sind die Tabletten weg oder anders dosiert, schon ist die Krankheit wieder da.

Dass behandelbar und heilbar zwei ganz verschiedene Paar Schuhe sind, dass ist unendlich schwer zu verstehen. Man möchte es als Kind auch gar nicht verstehen. Weil es bedeutet, dass die eigene Mutter niemals „normal“ sein wird, sondern immer irgendwie anders.

6. Bitte um Hilfe.

Wen denn? Da waren keine Verwandten, die ich hätte fragen können. Heute wünschte ich mir, meine Mutter hätte uns damals als Familie in die Therapie mit einbezogen. Dann hätten wir vielleicht gesehen, dass es eine richtige Ärztin war, zu der sie da regelmäßig fuhr. Dann hätten wir vielleicht verstanden, dass das wirklich eine Krankheit ist und wir nicht schuld an ihrem Verhalten sind. Eine objektive Sicht, die uns Kindern damit geholfen hätte, die Depression nicht zu persönlich zu nehmen.

 

Eine kleine Fußnote: Ich würde mir niemals anmaßen, ich hätte irgendeine Ahnung davon, was während einer Depression wirklich in einem Menschen vorgeht. Ich kann nur sagen, wie es mir als Tochter damit erging.

Once more, with feeling.

Kennt ihr diesen Moment, wenn man unterwegs ist,

total gestresst,

mit leerem Kopf,

noch nicht richtig wach,

dabei auf gut Glück irgendwelche Musik einschaltet und dann fischt der Player aus hunderten Song genau diesen einen heraus, der perfekt in den Augenblick passt? Ein vergessener Track, der vielleicht dennoch schon seit Tagen heimlich im Kopf herumgeisterte. Weil er einfach alles zusammenfasst, was einen gerade beschäftigt. Der einen scheinbar grundlos lächeln lässt, einem die Tränen in die Augen treibt, bei dem man fast stehen bleiben möchte und durch den man alles um sich herum von einer Sekunde auf die andere komplett ausblendet. Manchmal sogar Bäume und Laternen.